Lebensfreude, ein kreatives Umfeld und die Möglichkeit, den eigenen Weg zu gehen – Basel gibt der jungen Filmemacherin vieles, was sie aus ihrer Heimat, der Ukraine, nicht kennt. Nataliya Ilchuk bewohnt zurzeit die Basler Filmemacher-Residenz.

Wenn die junge ukrainische Filmemacherin Nataliya Ilchuk auf den Rhein blickt und die vorbei schwimmenden Schiffe beobachtet, dann fragt sie sich nicht, welche Güter diese wohl transportieren, welchen Weg sie hinter sich haben oder ob diese gerade einer Fähre den Weg abgeschnitten haben. Nataliya sieht Schiffe vielmehr als von der Erde losgelöste Objekte, frei, unkontrolliert und ohne fixen Bezugspunkt. «Manchmal tut es gut, zu vergessen und sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Losgelöst zu sein von der Routine, von der Arbeit, von Computer und Handy. Beim Filmemachen geht es um denselben Bewusstseinszustand. Es ist wichtig, sich von gängigen Strukturen zu lösen, frei und offen an ein Thema heranzugehen und sich dabei vom unendlichen Universum an filmischen und künstlerischen Möglichkeiten treiben und inspirieren zu lassen.»

«Manchmal tut es gut, zu vergessen und sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen.»

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Unvertraute Lebensfreude

Wir treffen Nataliya am Dreiländereck. Dort, wo die Schweiz, Frankreich und Deutschland aufeinandertreffen. Hierher kommt die aktuelle Bewohnerin der Basler Filmemacher-Residenz gerne, wenn sie nicht gerade in die Arbeit an ihren Filmprojekten vertieft ist. Wenn sie erschöpft ist oder Ruhe braucht, macht sie gerne einen Spaziergang bis zur Landesgrenze und darüber hinaus. Entlang am Rhein, durch's St. Johann-Quartier, vorbei am Novartis-Campus, bis nach Huningue. Über die Dreiländerbrücke überquert sie den Rhein und geniesst den Ausblick auf gleich drei Länder. Das Gefühl, frei und losgelöst zu sein wie die Schiffe, die sie hier beobachtet, erfüllt die junge Filmemacherin aus der Ukraine. Auf der anderen Rheinseite angekommen spaziert sie zur «Pylon» genannten Eisenplastik, die den weltoffenen Charakter Basels symbolisch und physisch festhält.

«Dieses entspannte Leben – ich muss zugeben, dass es nicht einfach ist, mich an diesen sorglosen Lebensstil zu gewöhnen.»

Von der Möglichkeit, als junge Regisseurin in der Filmemacher-Residenz des @Filmhaus Basel in Ruhe und ohne Leistungsdruck an ihren Filmprojekten arbeiten zu können, hörte sie während ihres Filmstudiums in Tourcoing, Frankreich. Zuvor besuchte sie die Filmschule in Warschau, Polen, und Kyjiw, Ukraine. Die Unterstützung und die Arbeitsatmosphäre, von welcher sie hier in Basel profitiert, ist sich Nataliya nicht gewohnt aus ihrer Heimat, der Ukraine. Ihre Filmkunst erhält von dort keine Unterstützung. Zu experimentell, zu wenig fassbar für das dortige vom Staat kontrollierte Filmförderungsprogramm, welches nicht gerade für eine unabhängige Entfaltung junger Künstler steht. Deshalb versucht Nataliya ihr Glück woanders, wo sie ihren eigenen Weg gehen kann.

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Überhaupt ist es für sie nicht einfach, die traumatischen Erlebnisse, die ihr Land unter dem Kommunistischen Regime der Sowjetunion durchmachen musste, hinter sich zu lassen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 und der Unabhängigkeit der Ukraine wuchs sie in einer kalten Atmosphäre der Angst auf, in der Liebe und Geborgenheit keinen Platz hatten. «In Frankreich, wo ich später einen Teil meines Filmstudiums absolvierte, lernte ich diesen Ausdruck «joie de vivre» kennen. Etwas, das ich aus meiner Heimat und meiner Kindheit nicht kannte. Diese Lebensfreude spüre ich auch hier in Basel. Dieses entspannte Leben – ich muss zugeben, dass es nicht einfach ist, mich an diesen sorglosen Lebensstil zu gewöhnen.» Man könnte wohl sagen, die Zeit, die Nataliya hier in Basel verbringt, hat eine beinahe psycho-therapeutische Wirkung.

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Weg frei für Gefühle

Das beste Ventil, um ihre Gefühle auszudrücken und sich mit ihrer Heimat und ihrer Familie auseinanderzusetzen, ist das Filmemachen. «Meine Filme sind alle irgendwie mit meiner Familie und meinem Leben in der Ukraine verbunden. Auf diese Weise versuche ich die Vergangenheit meines Landes zu verstehen – und kann schlussendlich das Publikum an diesem Prozess teilhaben lassen.» Wahre Gefühle, deren Unterdrückung und der Einfluss der Familie sind für Nataliya zentrale Bausteine ihrer Werke. Psychotherapie und Filme passen da perfekt zueinander. «In der Psychotherapie geht es stets darum, die individuelle Geschichte eines Menschen zu untersuchen, die ihn geprägt hat und zu dem Menschen macht, den er oder sie heute ist. Genau darum geht es auch in Filmen. Sie zeigen Geschichten auf, die zu den jeweiligen Handlungen der Protagonisten führen.»

«Meine Filme sind alle irgendwie mit meiner Familie und meinem Leben in der Ukraine verbunden. Auf diese Weise versuche ich die Vergangenheit meines Landes zu verstehen.»

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Nataliyas aktuelles Filmprojekt heisst «Clubbing». An ihrem Arbeitsplatz im Filmhaus Basel arbeitet sie am Schnitt ihres Films. «Clubbing» handelt von zwei Menschen, die zueinander finden, jedoch Angst haben, die eigenen Gefühle zu zeigen. Im Kontext eines Clubs, der an der Oberfläche Spass, gute Laune und ein sorgenfreies Leben suggeriert, möchte Nataliya zeigen, dass wichtige Dinge im Leben wie echte Gefühle, oft unter der Oberfläche verborgen bleiben und keinen Platz in der Gesellschaft haben. So wie sie es in ihrer Familie erlebt hat. Im Filmhaus in Basel kann sie nun konzentriert ihren Film zu Ende bringen. Motiviert durch das energiegeladene Team rund um den Basler Filmemacher Giacun Caduff, geniesst sie es, die Möglichkeit zu haben, ihre eigenen Projekte verwirklichen und ihren eigenen Weg gehen zu können.

Basel gibt der jungen Filmemacherin Nataliya Ilchuk vieles, was sie aus ihrer Heimat, der Ukraine, nicht kennt. Das kreative Umfeld der Filmemacher-Residenz, die weltoffene Stadt und der nicht für selbstverständlich zu nehmende, sorgenfreie Lebensstil inspirieren – und fordern sie gleichzeitig heraus.

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Basel inspiriert

In der Serie «Basel inspiriert» werden junge nationale und internationale Filmemacher portraitiert, die jeweils für drei Monate die Filmemacher-Residenz im Gerbergässlein bewohnen. Der Verein für die Förderung der Begeisterung am bewegten Bild (VFBbB), der auch das jährlich stattfindende Gässli Film Festival organisiert, stellt seit 2019 die Räumlichkeiten des Filmhaus Basel jungen Filmemachern zur Verfügung und gibt ihnen die Möglichkeit, Basel als Inspiration und Energiequelle für zukünftige Projekte zu nutzen. Der VFBbB bietet den Künstlern Unterstützung und Hilfestellungen im Arbeitsprozess und stellt sein grosses Netzwerk in der regionalen, nationalen und internationalen Filmszene zur Verfügung. Partnerschaften mit Film Festivals, Sponsoren und Fördervereinen unterstützen und ermöglichen den Aufenthalt der jungen Filmemacher in Basel.

vfbbb.ch