Unterricht für Glätterinnen in der Frauenarbeitsschule, 1930er-Jahre.
Diese Woche ist mir ein höchst spannendes Büchlein in die Hände geraten. Es heisst «Auf Abwegen – Frauen im Brennpunkt bürgerlicher Moral» und wurde kürzlich vom Verein Frauenstadtrundgang veröffentlicht. Das auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Buch weckte in mir das dringende Bedürfnis, ganze Abschnitte mit Leuchtstift zu markieren.

Früher mochte ich Geschichte nicht. Das war mir alles zu abstrakt und ich konnte unmöglich einen Zusammenhang zwischen der Französischen Revolution und meiner Realität als Teenager erkennen. Heute will ich dir ein Buch ans Herz legen, das über 100 Jahre zurückgeht und in Wort und Bild aufzeigt, wie der Alltag von Frauen in Basel um 1900 ausgesehen hat. Ein Buch das erklärt, wie unser Leben heute mit den Meinungen und Erkenntnissen von damals zusammenhängt.

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Das Gesellschaftsbild, das heute noch in vielen Köpfen herumgeistert, wurde nämlich erst im 18. Jahrhundert manifestiert. Bis dahin war es üblich, gemeinsam innerhalb der Familie und des Hauses zu arbeiten, auf dem Hof oder im gemeinsamen Handwerksbetrieb. «Erst mit der Entstehung von Fabriken wurden die Bereiche Lohnarbeit und Hausarbeit (…) räumlich und zeitlich voneinander getrennt. Dadurch verfestigte und konkretisierte sich die Vorstellung von ‘Geschlechtscharakteren’: Frauen seien nach innen gewandt, häuslich, passiv, irrational, Männer dagegen aktiv, rational und nach aussen gewandt. Damit einher ging die räumliche Trennung: Innen meinte den Haushalt und das Familienleben, aussen die Politik, die Lohnarbeit ausserhalb des Hauses, das Vereinsleben oder Wirthausbesuche mit Diskussionen am Stammtisch.»

 

Männer arbeiteten also fortan ausser Haus, während die Frauen sich um Haushalt und Kinder zu kümmern hatten. Viele Frauen konnten es sich jedoch nicht leisten, nur unbezahlte Hausarbeit zu verrichten. Sie mussten Geld verdienen, sofern sie nicht der reichen, bürgerlichen Schicht angehörten. Sie taten dies in Basel zum Beispiel als Magd. Mägde kamen oft von ausserhalb, aus dem Elsass oder aus dem Badischen. Sie mussten rund um die Uhr für anfallenden Arbeiten zur Verfügung stehen und hatten kaum Privatsphäre oder Freizeit. Im Buch ist die Geschichte einer deutschen Magd beschrieben, die 1849 im Haushalt ihrer Herrschaft an der Schifflände mit einem Liebhaber im Bett erwischt worden war. Der Magd wurde gekündigt, sie musste mehrere Tage ins Gefängnis und verlor zudem den legalen Aufenthaltsstatus in Basel. Was wohl dem Liebhaber passierte?

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Jedenfalls versteht sich von selbst, dass Fabriken die anziehenderen Arbeitgeber waren. Dort gab es fixe Arbeitszeiten und damit eine Aussicht auf Freizeit – auch wenn diese eng bemessen und bei Frauen meist mit Hausarbeit ausgefüllt war. In Basel war vor allem die Seidenbandindustrie eine wichtige Arbeitgeberin. Um 1880 waren allein in der Seidenbandweberei knapp 80 Prozent der Beschäftigten Frauen, die natürlich einen deutlich geringeren Lohn erhielten als die Männer und darum günstige Arbeitskräfte waren. Oft arbeiteten sie in Heimarbeit – Rohstoffe und Maschinen wurden ihnen dafür zur Verfügung gestellt. So konnten sie sich die Zeit freier einteilen und sich nebenher besser um Kinder, Küche und Haushalt kümmern. Auch die Kinder arbeiteten übrigens oft in der Fabrik. Erst 1877 wurde die Fabrikarbeit von Kindern unter 14 Jahren verboten.

 

Wenn alle Stricke rissen, blieb die Prostitution. Doch diese war verboten und so drohte Prostituierten – neben Geschlechtskrankheiten und ungewollten Schwangerschaften – eine dreijährige Haftstrafe im Lohnhof oder ein Stadtverweis. Dennoch konnten reiche Herren ihre Damen zum Barfi bestellen, wo sie unauffällig in deren Droschke einstiegen und aus der Stadt hinausfuhren. Einige Frauen empfingen ihre Freier auch auf der Pfalz. Wer unehelich schwanger wurde, musste sich noch bis 1873 selbst anzeigen und bekam als Mindeststrafe 24 Stunden Haft. Logisch versuchten ungewollt Schwangere mit allen Mitteln, die Schwangerschaft zu beenden. Gelang dies nicht auf eigene Faust, so gab es in der Stadt auch Frauen, die sich auf Abtreibungen spezialisiert hatten ...

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Ich könnte hier noch viele ungeheuerliche Anekdoten aus dem Buch erzählen – sie alle haben mir zu denken gegeben, denn es war und ist bis heute paradox: Das Bild der fürsorglichen, geduldigen und sanftmütigen Hausfrau, Betreuerin und Mutter hängt nach wie vor an zahlreichen Wänden. Der Mythos, Frauen seien in Erziehung, Hausarbeit und Fürsorge ‘besser’ als Männer, geistert noch immer herum. Trotzdem wird bis heute die von allen als ungemein wichtig anerkannte Care-Arbeit schlecht oder gar nicht entlohnt. Nach der Lektüre dieses Buches scheint die Weiterentwicklung bestehender Strukturen dringlicher denn je.

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«Auf Abwegen - Frauen im Brennpunkt bürgerlicher Moral» ist im Christoph Merian Verlag erschienen.