Lange Zeit galt er als trivial, minderwertig, als Literatur für ungebildete Schichten und Jugendliche, die zu faul sind zum Lesen. Heute gilt der Comic als neunte Kunst. Seine Geschichten sind gesellschaftskritisch, politisch, witzig und philosophisch. Das Zusammenspiel von Bild und Text ermöglicht zarte Zwischentöne, kluge Wendungen und ergreifende Vielschichtigkeit. Den fahlen Beigeschmack von Schund haben die Comics offiziell bereits Anfangs der 80er Jahre verloren. Damals veröffentlichte Art Spiegelman seine Graphic Novel «Maus» und gewann damit den Pulitzerpreis. Die Geschichte eines Auschwitzüberlebenden bewies: Das Genre Comic ist dem Jugendalter entwachsen. Es ist nun nicht mehr nur leichte Unterhaltung. Es ist Literatur, es ist Kunst. Allein: Verinnerlicht haben wir diese Tatsache noch nicht.
Es gibt noch viel zu tun, um den Comic in der Gesellschaft zu verankern.
«Es gibt noch viel zu tun, um den Comic in der Gesellschaft zu verankern», ist sich Anette Gehrig, Leiterin des Cartoonmuseum Basel, bewusst. «Immerhin wird er von der Kulturstiftung Pro Helvetia heute als eigenständige Kunstform gefördert. Es gibt in mehreren Schweizer Städten Schulen, in denen das Handwerk gelehrt wird, zudem zwei Comic-Festivals.» Dass es in Basel seit 44 Jahren ein Kompetenzzentrum der narrativen Zeichnung gibt, ist eine absolute Besonderheit, denn, so Anette Gehrig: «Obwohl der Comic als Kunstform bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts existiert, wurde er wenig gesammelt. Daher gibt es auch international bis heute nicht viele Comic-Museen.»
Ich mag es, Themen zu präsentieren, die uns unter den Nägeln brennen.
In Basel liegen rund 10'000 Karikaturen und Cartoons im Museumsarchiv, welches der Christoph Merian Stiftung von einem Anfang der 90er Jahre verstorbenen Mäzen zur Verfügung gestellt wurde. Auch die öffentliche Präsenzbibliothek mit grossen Klassikern, spannenden Entdeckungen und Sekundärliteratur im ersten Stock des Museums wurde zu einem grossen Teil gestiftet. Grund genug, das Cartoonmuseum zu entdecken. Auf eigen Faust, oder – noch besser – an einer der regelmässigen Führungen, an denen Anette Gehrig persönlich Kontexte erklärt, über die Entwicklung der grafischen Literatur berichtet, auf Details hinweist und die Gäste von ihrem immensen Wissen und Know-How profitieren lässt.
Drei Ausstellungen organisiert sie pro Jahr, achtet dabei auf stilistische Vielfalt und Aktualität. «Ich mag es, Themen zu präsentieren, die uns unter den Nägeln brennen», erzählt sie. Allerdings legt sie auch Wert auf die Entwicklung des Genres. «Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Comic nämlich auf einem sehr, sehr hohen Niveau. Das sieht man zum Beispiel an den Werken von Winsor McCay oder Will Eisner, dem Godfather der Graphic Novel, dem wir eben eine Ausstellung gewidmet haben.» Neben den Klassikern sind im Museum auch regelmässig Jungstars zu entdecken, die ihr Schaffen hier präsentieren dürfen. Anette Gehrig beobachtet und kennt die Szene genau. Wer sich in das Genre Comic einlesen will, tut gut daran, sie um Rat zu fragen. Politische Debatten, Historisches, Themen rund ums Frausein, Fantasie- oder Beziehungsgeschichten – sie kennt sie alle. Wer bei den lustigen Taschenbüchern vor dreissig Jahren stehen geblieben ist, braucht zwar etwas Übung, sich in einen zeitgemässen Comic einzulesen, doch dann wird sich schnell eine neue Welt auftun, die man nie wieder verlassen möchte.
Sagen Sie mal, Frau Gehrig …
Können Sie sich an ihren ersten Comic erinnern?
Ich habe mir gerne diese humoristischen Zeichnungen von Tomi Ungerer angeschaut. Und irgendwann während des Studiums bin ich mit Robert Crumb eingestiegen. Natürlich lagen auch Tim & Struppi bei uns zu Hause rum, aber die haben mich nie so richtig gepackt.
Ihr liebstes Buch ohne Bilder?
(überlegt lange) Leïla Slimani «Der Duft der Blumen bei Nacht». Ich lese jedoch eindeutig mehr Comics!
Welches Genre lieber nicht?
Fantasy. Finde ich zwar nicht schlecht, ist aber nicht meine Welt. Und Mangas. Zwar gibt es einige, die ich gerne mag, allerdings lese ich die mehr, um mich zu informieren.
Bei welchem Comic Tränen gelacht?
An «Hempels Sofa» von Ralf König erinnere ich mich immer wieder gerne. Auch bei «Die Katze des Rabbiners» von Joan Sfar muss ich oft lachen – lerne aber auch ganz viel über die jüdische Religion. Catherine Meurisse schreibt sehr lustvolle Kurzgeschichten über Beziehungen und Begegnungen – herzzerreissend, wenn auch überaus bitter und realistisch.
Bei welchem Comic Tränen geweint?
Ganz sicher «Maus» von Art Spiegelman. Das schau ich auch immer wieder an, weil es so vielschichtig ist, dass man gewisse Dinge erst später entdeckt.
Gehört der Humor im Comic dazu?
Nicht unbedingt. Joe Sacco hat zum Beispiel viele Reportagen zum Nahost-Konflikt gemacht. Ein ernsthaftes, kritischen und brennendes Thema. Natürlich sind auch da Szenen, in denen Humor eine Rolle spielt, aber grundsätzlich sind es gesellschaftskritische Inhalte. Ein anderes Beispiel ist Anja Wicki, die mit «In Ordnung» eine zarte Geschichte über Depression veröffentlichte. Durch die Verbindung von Text und Bild kann der Comic ganz besonders viele Ebenen ansprechen. Er kann starre Muster aufbrechen, neue Bilder finden, Fantasie hineinbringen. Oder ein Thema aus einer ganz anderen Perspektive beleuchten.
Können Sie zeichnen?
Ich finde Zeichnen etwas sehr, sehr Schönes und tatsächlich mache ich mir oft kleine Zeichnungen anstelle von Notizen. Dennoch liegt mir das Analytische mehr.
Die Entwicklung des Comics in Kürze
Superman, Popeye, Garfield, Bugs Bunny: Comicfiguren finden Millionen von Lesern auf der ganzen Welt. Den Anfang machte «Yellow Kid», eine Geschichte von Zeichner Richard F. Outcault, die 1895 erstmals in der New Yorker Zeitung «Sunday World» erschien und rasende Verbreitung fand, auch weil ihn Jung und Alt, Amerikaner wie auch fremdsprachige Einwanderer gleichermassen verstanden. Der Ursprung des frechen Buben geht jedoch zurück ins Mittelalter, wo ebenfalls bereits mit sequenziellen Bildfolgen gearbeitet wurde.
Die ab 1902 erschienenen Comichefte richteten sich hauptsächlich an Kinder und Jugendliche, waren vor allem lustig und wurden daher auch «funnies» genannt. Mit Superman explodierten ab 1938 die Verkaufszahlen. Weitere Superhelden wie Batman, Captain America und Wonder Woman folgten. Nach dem zweiten Weltkrieg erschienen zunehmen Comics, die Themen wie Sex, Gewalt und Verbrechen thematisierten, was eine Welle an öffentlichen Protesten gegen den moralischen Verfall zur Folge hatte. Der ab 1954 geltende «Comics Code» verbannte alles Unsittliche aus dem Comic. Mickey Mouse, Donald Duck und Co. freuten sich – ihre harmlosen Geschichten verkauften sich umso besser. Allerdings liessen die fortan unter der Hand publizierten Undergroud-Comics weiterhin kein Tabu aus. 1978 schaffte Will Eisner mit «A contract with God» die erste Graphic Novel, die vor allem Erwachsene ansprach. Internationale Aufmerksamkeit erhielt das Genre durch das Werk «Maus» von Art Spiegelman. Der Künstler verarbeitete darin die Geschichte seines Vaters, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebte. Spiegelmans Arbeit wurde 1992 mit dem Pulitzerpreis honoriert.
In Europa startete der Durchbruch mit Tintin (Tim und Struppi), der erstmals 1946 erschienen. Tintins Schöpfer Hergé stammte aus Belgien, dem Mutterland des europäischen Comics. Später feierten Spirou und Fantasio, Asterix und Obelix oder Lucky Luke grosse Erfolge. Während die französische Schweiz seit Mitte des 19. Jahrhunderts Bildergeschichten produzierte und mit Belgien und Frankreich in engem Austausch stand, bestand die Deutschschweizer Comics lange Zeit fast ausschliesslich aus «lustigen» Bildergeschichten wie Papa Moll oder Globi. Erst in den 80er Jahren entwickelte sich mit dem avantgardistischen Comic Magazin Strapazin eine entsprechende Szene. Heute ist das Schweizer Comicschaffen über die Sprachgrenzen hinweg inhaltlich wie auch stilistisch extrem vielfältig.