Bereits vor 500 Jahren untersuchte der berühmte Anatom Andreas Vesal in Basel tote Körper für die Wissenschaft. Bis heute tun es Studierende der Medizin dem mittelalterlichen Forscher gleich; sie lernen am menschlichen Körper. Eine Reise in die faszinierende Welt der Anatomie und ein Blick hinter die Kulissen des Anatomischen Museums Basel.

Es ist kühl im Präparationssaal. Zwischen 18 und 20 Grad, erklärt mir Roger Kurz, Präparator im Anatomischen Institut Basel. Die ideale Temperatur, um Körperspenden zu präparieren. Präparieren, so erklärt er mir, nennt man es, wenn man an Körpern arbeitet, sie aufschneidet, Haut, Fett und Bindegewebe entfernt, Blutgefässe und Nerven freilegt. Das machen Medizinstudierende im zweiten Studienjahr, nachdem sie sich im ersten mit dem Bewegungsapparat befasst haben. Immer tiefer arbeiten sie sich in den menschlichen Körper hinein, kennen sie die Nervenbahnen, kommt die Muskulatur an die Reihe, später wird der Torso geöffnet, um den Aufbau der inneren Organe zu untersuchen. «Im Präparierkurs lernen die Studierenden den kompletten Aufbau des Menschen, bis hin zum Gehirn», erzählt Roger Kurz. «Ein sehr komplexes Thema, das bis heute nicht an Modellen oder aus dem Buch heraus erarbeitet werden kann.» 

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Magdalena Müller-Gerbl, Leiterin des Anatomischen Institutes, weiss von wissenschaftlichen Präparationen, auch Sektionen genannt, die bereits im 3. Jahrhundert vor Christus durchgeführt wurden. «Allerdings eignete man sich das anatomische Wissen in den Anfängen vorwiegend von Tieren an und übertrug die Erkenntnisse auf den Menschen.» Auch das weit über tausend Jahre lang als Lehrgrundlage dienende anatomische Standardwerk des griechischen Mediziners Claudius Galen (129 – 199 n. Chr.) basierte auf an Tiersektionen erworbenen Erkenntnissen «und enthielt entsprechend viele Irrtümer», schmunzelt die Professorin. 

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Erst in der Renaissance kam man wissenschaftlich einen Schritt weiter und dabei spielte die Stadt Basel eine bedeutende Rolle. «Die hier blühende Buchdruckerkunst zog Gelehrte wie Andreas Vesal an», berichtet Müller-Gerbl. «Der flämische Anatom und Chirurg gilt als eigentlicher Begründer der modernen Anatomie.» 1543 publizierte er in Basel sein Lehrbuch «De humani corporis fabrica» und veranstaltete eine mehrere Tage dauernde Sektion eines hingerichteten Ehebrechers aus dem Elsass. Sein Skelett präparierte Vesal und schenkte es der Basler Universität. Es steht heute als ältestes anatomisches Skelettpräparat der Welt im Museum. «Man sieht sogar, woran der Mann gestorben ist.» Magdalena Müller-Gerbl zeigt auf die Lücke in der Halswirbelsäule. «Er wurde geköpft.»

Ich leite Kurse und Workshops, führe Schulklassen durchs Museum, organisiere den Studentenbetrieb, entfette Knochen, setze auch mal Gliedmassen ab, konserviere Leichen, bestelle Särge ... Roger Kurz

 

Auch die imposante Erstausgabe von Vesals in Basel gedrucktem Lehrbuch steht noch in der Bibliothek des Instituts, ganz unscheinbar in einer Glasvitrine hinter einem Händedesinfektionsmittel. Von der enormen Bedeutung Vesals für die Medizin zeugt überdies ein Ölporträt, gemalt von Arnold Böcklin, und der in Stein gemeisselte Name am Haupteingang. Diesen Eingang betritt Roger Kurz seit 28 Jahren – länger sogar, denn «mein Vater war Kurator des Museums. Darum bin ich schon als kleiner Bub zwischen den Präparaten herumgerannt und hab meinen Vater verrückt gemacht mit all meinen Fragen», schmunzelt er. Kein Wunder, wollte er nach der Schule Präparator werden. «Mein Vater fand das zwar keine so gute Idee, aber ich bin bis heute von meiner Berufswahl überzeugt.» Ganz besonders schätzt er die Abwechslung im Alltag. «Ich leite Kurse und Workshops, führe Schulklassen durchs Museum, organisiere den Studentenbetrieb, entfette Knochen, setze auch mal Gliedmassen ab, konserviere Leichen, bestelle Särge ...» 

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Huch. Da ist er nun also, der Tod, der in diesem Institut ganz selbstverständlich dazugehört. Wer damit nicht umgehen kann, ist in dieser Branche fehl am Platz. Das Wunder Leben und dessen Endlichkeit verschmelzen hier ebenso natürlich wie sich die Wissenschaft mit der Kunst vereint. Die im Museum ausgestellten Wachsmodelle, Zeichnungen und Präparate zeugen von unfassbarer Sorgfalt und Feingeistigkeit. Einige Objekte sind filigrane Meisterwerke. Viele von ihnen sind weit über hundert Jahre alt. Sektionen, also Öffnungen von Leichen für wissenschaftliche Erkenntnisse, gab es in Basel nämlich seit dem Mittelalter. Felix Platter zum Beispiel veranstaltete öffentliche Sektionen in der Elisabethenkirche. Auch die Basler Universität hatte ein «Anatomisches Theater», in dem bis zu 100 Zuschauende Platz fanden. Allerdings mangelte es oft an Leichen, weshalb der medizinische Fortschritt jeweils jahrelang stagnierte.    

 

Den Körperspenderinnen und Körperspendern zollen wir grössten Respekt. Magdalena Müller-Gerbl und Roger Kurz

Dieses Problem kennt man heute kaum mehr. Während früher Körper von Verbrechern, aus dem Siechenhaus oder dem Spital für medizinische Zwecke erbettelt wurden, gibt es heute Menschen, die ihren Körper freiwillig der medizinischen Lehre vermachen. «Den Körperspenderinnen und Körperspendern zollen wir grössten Respekt», betonen Magdalena Müller-Gerbl wie auch Roger Kurz. Pietät wird hier grossgeschrieben. Jeweils einmal im Jahr gibt es eine Gedenkfeier für die Hinterbliebenen der Körperspendenden, die zum Teil zwei bis drei Jahre darauf warten müssen, ihre verstorbenen Angehörigen zu beerdigen. Als Zeichen ihrer Dankbarkeit untermalen die jungen Medizinerinnen und Mediziner die Feier musikalisch. 

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Im Anatomischen Institut führt mich Roger Kurz durch einen Gang, der gesäumt ist von Räumen voller weiss polierter Waschtische, hinein in den Präparationssaal. Mehrere Tische mit Körpern, die sich unter blauen Tüchern abzeichnen, stehen da, dazwischen ein paar Skelette. Etliche Bildschirme hängen an der Decke «zur Übertragung, wenn die Professorin oder der Professor etwas Spezielles demonstriert», erzählt er und weist auf eine Kamera, die an einem riesigen Schwenkarm befestigt ist. Ich wundere mich darüber, dass es nicht unangenehm riecht. «Das liegt daran, dass wir die Körperspenden vor der Präparation mit Formalin haltbar machen. Würden wir sie nur kühlen, würde innerhalb weniger Tage die Verwesung einsetzen. Die Körper liegen zudem auf sogenannten Absaugtischen. Die ganzen Chemikalien werden durch das Luftsystem weggefiltert.»

 

 Ich glaube nicht, dass da noch etwas kommt.

Es ist eine faszinierende Welt, die mir Roger Kurz hier zeigt und von der mir Magdalena Müller-Gerbl erzählt. Sie zeigt mir auf, wie bewegt die Geschichte der Medizin und wie bahnbrechend die medizinischen Entwicklungen sind. Sie lehrt mich, sorgsam mit meinem Körper umzugehen und dankbar zu sein für all die Knochen, Nerven, Muskeln und Organe, die täglich einwandfrei funktionieren. Dankbar bin ich auch den Menschen, die sich nach dem Tod jungen Medizinerinnen und Mediziner zur Verfügung stellen, damit diese die Grundvoraussetzungen für das Verständnis von Krankheiten lernen und sich auf ihren Berufsalltag vorbereiten können. 

 

Und dann stelle ich sie zum Schluss doch noch, die Fragen aller Fragen: Kommt denn nun noch etwas nach dem Tod? «Wenn ich gestorben bin, dann bin ich gestorben» antwortet Roger Kurz. «Ich glaube nicht, dass da noch etwas kommt.» Dennoch ergänzt er schmunzelnd: «Allerdings habe ich auch schon zu meinen Kindern gesagt, dass mein Schwiegervater uns sicherlich noch von irgendwoher zuschaut …» Die Medizin hat diesbezüglich bislang nichts bewiesen.

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Das Anatomische Museum Basel

1824 gründete Professor Carl Gustav Jung das Anatomische Kabinett zu medizinischen Unterrichtszwecken, den Vorläufer des Anatomischen Museums. Unter seiner Leitung wurde eine Vielzahl von Präparaten und Wachsmodellen hergestellt. Diese und weitere historische Wachsrekonstruktionen (zum Beispiel die berühmten dreidimensionalen Wachs-Embryonen von Wilhelm His), zudem Zeichnungen, präparierte Körperteile, Organe und Geweben sind heute noch im Museum zu sehen. Dem Anatomischen Institut angegliedert, dient das Museum auch den Studierenden der Medizin als Lehrsammlung. Zudem können Führungen und Workshops gebucht werden und es gibt spannende, einfach verständliche Sonderausstellungen zu Spezialgebieten der Anatomie.