Die Kartonschachteln stapeln sich im Atelier von Celestino Piatti. Darin haufenweise beschriftete Mappen. ‘Frauenverein Basel’ steht drauf, ‘Mon Chérie’ oder ‘Pro Juventute’. Zwischen den unzähligen Skizzen und Studien finden sich Farbmuster, Gedankenfetzen, Ideen. Weitere Kisten sind angeschrieben mit ‘LEERE TEEDOSEN’, ‘ZU SORTIEREN’, ‘VERBRAUCHTE STIFTE’. Oder ganz lapidar mit ‘MUMPITZ’. Der Föhn, den Celestino Piatti jeweils benutzte, um die aufgemalten Farben möglichst schnell trocken zu kriegen, damit er ohne Verzögerung weiterarbeiten konnte, liegt noch im Regal. Model Solis, tiefe 70er Jahre. Dazwischen Pinsel, Farbkarten, Tintenfässchen, Zündholzschachteln, stapelweise Papier und kleine Zeichnungen. Eulen, immer wieder Eulen.
Celestino Piatti ist 2007 gestorben. In seinem Atelier sieht es aus, als hätte er gestern noch hier gesessen, auf seinem abgewetzten Ledersessel am Pult, hätte auf den Rhein geschaut, gezeichnet und gemalt. Hier betritt man eine – leider nicht öffentlich zugängliche – Schatzkiste. Darf in kleinen Schubladen kramen, in Schachteln wühlen und Ablagen durchforsten. Laufend entdeckt man Neues, Witziges, Spannendes.
Selbst seine Familie hat noch längst nicht alles gesichtet. Weder im Atelier in der St. Johanns-Vorstadt, das voll ist bis unter die Decke, noch in der alte Lagerhalle, dem Archiv in Grellingen mit tausenden von Zeichnungen, Lithografien, Plakaten, Skizzen, Briefen und Notizen. Celestino Piattis Tochter Barbara geraten immer wieder neue Blätter in die Finger, Erinnerungen an ihren Vater und sein rund 70-jähriges Berufsleben. Für Piattis Familie ist die Aufarbeitung seines Werkes eine Reise in die Vergangenheit. 2019 hat sie einen Verein gegründet, mit dem Ziel den Nachlass zu verwalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sogar auf Instagram ist Celestino PIatti heute.
«Eigentlich hat er gar nie aufgehört zu produzieren», erzählt mir Barbara im Gespräch, «seine letzten Aufträge sind aus dem Jahr 2005 – da war er 83 Jahre alt. Kein Wunder hatten wir immer zu wenig Platz und mussten Räume anmieten. Unser Thema war immer: Wo bringen wir alles unter? Aber nie: Lass uns mal ein paar Dinge aussortieren und weggeben.» Bis heute liegt ein kleines Kulturerbe auf die Wohnung im St. Johann und die Lagerhalle in Grellingen verteilt. «Für mich war es eine Art Verpflichtung, auf den 100. Geburtstag von meinem Vater sein Werk zu zeigen und zugänglich zu machen», sagt Barbara Piatti. Dass ihr Vater auch international ein dermassen angesehener Grafiker und Illustrator gewesen war, wurde ihr erst durch ihre Arbeit am kürzlich veröffentlichten Buch klar, welches sie mit dem Historiker Claudio Miozzari herausgegeben hat. «Natürlich wusste ich als Kind, dass er Ausstellungen macht, war an seinen Vernissagen mit dabei. Aber dass er in seinem Bereich so prägend war, dass er das kollektive visuelle Gedächtnis vieler Menschen dermassen beeinflusst hat, wurde mir erst sehr viel später bewusst.»
Es ist fast erschlagend, wie produktiv er war.
Immer wieder hatte Piatti eine enorme Arbeitslast und Termindruck, legte Nachtschichten ein. «Er hat immer wahnsinnig gerne gearbeitet, war unglaublich produktiv und ermöglichte das Unmögliche. Aber er war kein guter Organisator», weiss Barbara rückblickend. «Das sieht man darin, wie er seine Archivsachen abgelegt hat. Wir finden heute viele Kisten, in die er einfach alles von einem Auftrag reingeschmissen hat. Skizzen, Korrespondenz, Rechnungen und Notizen wie ‘noch abrechnen?’ – oft wusste er nicht, ob er schon Rechnung gestellt hatte oder nicht. Vieles ist einfach in der Masse der Arbeit untergegangen. Archivieren, ablegen, ordnen und planen war nicht seins. Aber es ist fast erschlagend, wie produktiv er war.» Piatti war auch ein Perfektionist. Selbst nach 30 Jahren Arbeit beim dtv korrigierte er jedes kleinste Detail. Falsche Wortabstände oder unpassende Farbtöne liess er nicht durchgehen. «Wo man doch denken könnte, mein Gott, es ist der 6000ste Umschlag, lass gut sein», schmunzelt Barbara heute.
Als ich an dem Tisch im St. Johann sitze, an dem Piatti einst mit den Lektoren des Verlags seine Buchcover diskutierte, setzt sich langsam ein Bild dieses Mannes zusammen, den ich persönlich nie kennengelernt habe. Ich lausche Barbaras Erzählungen vom Café Spillmann, wo ihr Vater und ihre Mutter, die Journalistin Ursula Huber, sich anlässlich eines Interviews zum ersten Mal gesehen und sofort ineinander verliebt hatten. Von der Aussicht aus der Wohnung, die ihre Eltern vor allem wegen des internationalen Flairs der vorbeifahrenden Frachtschiffe begeisterte. Von Reisen nach Australien oder Irland und von Ausflügen mit ihrem Vater in den Wald. Sie erzählt, dass ihr Vater gutmütig war, sensibel und bescheiden und dass ihm nichts in den Schoss fiel, obwohl er sein Handwerk beherrschte wie kaum ein anderer. «Hinter jeder Grafik standen unzählige Skizzen und Entwürfe», ist sich Barbara heute bewusst. Und ich weiss jetzt: Jeder kleinste Schnipsel liegt noch in irgendeiner Kiste. Ich beneide Barbara nicht um die Arbeit, sich durch das kreative Universum ihres Vaters hindurchzuarbeiten. Aber ich beneide sie dafür, diesen besonderen Menschen persönlich gekannt zu haben und ganz eng mit diesem magischen Universum verbunden zu sein.
Archiv-Tage
Im Januar 2022 werden die Türen zum grossen Archiv in Grellingen (BL) geöffnet. Alle Interessierten sind eingeladen, in dieser visuellen Schatzkiste zu stöbern. Eine grosse Auswahl an Druckgrafiken, Plakaten, Gemälden, Skizzen und Skulpturen stehen zum Verkauf. Familien- und Vereinsmitglieder geben Auskunft und helfen bei der Suche nach Lieblingsmotiven. Eintritt nur auf Anmeldung.
Zum Leben und Schaffen Celestino Piattis
Celestino Piatti kam am 5. Januar 1922 als Sohn eines Tessiner Steinhauers und einer Zürcher Bauerntochter zur Welt. Er wuchs in Dietlikon auf und machte seine Ausbildung zum Grafiker in Zürich. 1944 kam er für seine erste und einzige Anstellung als Werbegrafiker nach Basel ins Atelier Fritz Bühler. Bereits 1948 – mit 26 Jahren – machte er sich selbständig. Fortan warb er für Konsumgüter wie Rolex, Campari, Ovo, Knorr Suppenwürfel oder Bell Würste aber auch für Kultur und Politik. Es war ihm ein Bedürfnis, sich mit seinen Mitteln für humanitäre Anliegen und für den Schutz von Tier und Umwelt einzusetzen. Zwischen 1961 und 1992 gestaltete er über 6300 Buchumschläge für den dtv (Deutscher Taschenbuch Verlag) in München. Daneben illustrierte er sieben Kinderbücher, machte Ausstellungen, kreierte über 500 Plakate. 30 davon wurden als bestes schweizerisches Plakat des Jahres ausgezeichnet. Ihm selbst wurde 1985 der Preis des Schweizer Buchhandels verliehen. Mehrere von ihm gestaltete Bücher bekamen das Prädikat «schönstes Buch des Jahres». Piattis Kunst ist bis heute weltweit bekannt und gefragt. Seine Plakate werden im Netz für hunderte von Franken gehandelt.
Piatti war zwei Mal verheiratet und hatte insgesamt fünf Kinder. Mit seiner ersten Frau lebte er in Riehen, mit seiner zweiten in einer Wohnung in der St. Johanns-Vorstadt und in Duggingen. Celestino Piatti verstarb am 17. Dezember 2007. Seine drei Töchter und seine zweite Frau leben nach wie vor in Basel und der Region.