Der Basler Künstler und Regisseur Boris Nikitin hat im Museum Tinguely den ersten Big Brother Container nachgebaut. Ein Besuch weckt Erinnerungen, löst Beklemmung aus und animiert zum Nachdenken. Noch bis am 21. Januar kannst du dich ins Startjahr des Reality-TVs zurückbeamen.

Willkommen in Goerge Orwells Dystopie: Der «Grosse Bruder» überwacht die Gesellschaft, gibt ihr über Mikrofone zu verstehen, was sie zu tun hat und versagt ihr jegliche Privatsphäre. Was in Orwells Roman «1984» von 1949 noch nach düsterer Zukunftsvision klang, wurde im Jahr 2000 Realität. Damals, am 28. Februar genau, startete auf RTL 2 eine Show, die zum absoluten Kult wurde: Big Brother.

 

100 Tage lang wurde zehn unbekannte Menschen ohne Kontakt zur Aussenwelt in einen Wohn-Container gesteckt und rund um die Uhr gefilmt. Die ‘spannendsten’ Szenen (Konflikte, Provokationen, Geständnisse, Sex) wurden zur abendfüllenden Reality-Show zusammengeschnitten. Die Empörung über das Menschenrecht verletzende, voyeuristische Konzept der Sendung tat ihrem Erfolg keinen Abbruch, im Gegenteil. Bis zu 5 Millionen Menschen sassen jeweils vor der Glotze und trällerten den Titelsong der unterdessen vergessenen Boygroup «Die 3. Generation» mit: «Leb! So wie du dich fühlst, leb dein Leben so, wie du selber nur willst.» Zum Beispiel eingesperrt und videoüberwacht in einem Container.

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Rundherum das «echte Leben»: Der BB-Container im Museum Tinguely.

Erinnerst du dich an Zlatko und den Strahlemann Jürgen, der am Ende das Preisgeld von 250'000 DM doch nicht gewann, weil das Publikum nämlich John, an den sich heute keiner mehr erinnert, noch besser fand? Oder an die verliebten Alex und Kerstin, denen offenbar nicht bewusst war, dass die Kameras eine Nachtsichtfunktion hatten? All das und noch viel mehr kommt mir in den Sinn, als ich den Nachbau des Containers vom Basler Künstler und Regisseur Boris Nikitin im Museum Tinguely besuche. Ja, auch ich sass damals vor dem Fernseher und verfolgte das Geschehen ungläubig, kopfschüttelnd, genervt – und fasziniert.

 

In Socken durch die Installation von Boris Nikitin wandelnd, denke ich an Frauengespräche bei schummrigem Licht, an Bierflaschen auf dem Esstisch, an Zahnputz-Szenen, nackte Oberkörper und Monotonie. Was ich vergessen habe: Die billigen Ikea-Möbel. Die geschmacklose Einrichtung. Die fiese Farbkombination von Teppich und Wänden. Die Katze. Die Aschenbecher. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben pausenlos gequarzt. So wirft mich der Besuch im Museum Tinguely ein knappes Vierteljahrhundert zurück. Erneut bin ich Spionin, blicke in dem Container unter die Betten, in den Mülleimer, ins Bücherregal. Alles ist unfassbar ungemütlich, eng und beklemmend und ich bete inständig, dass die vielen Kameras nur Attrappen sind.

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Die Bewohnerinnen und Bewohner sind weg - ihr Dreck ist (zumindest symbolisch) noch da ...

Tatsächlich hat sich Bors Nikitin an sehr viele Details gehalten. Die Küchenzeile mit dem winzigen Herd, die farbigen Wände, das rote Ikea-Tischchen, der blaue Teppich, die Topfpflanzen, der Schwedenofen oder die Kunstledersofas – alles scheinbar zufällig zusammengestellt wie im echten Container. Die Stille in den Räumen wird durch eine unangenehme Geräuschinstallation gefüllt, die das Gefühl der Beklemmung noch grösser werden lässt. Der Besuch von «The Last Reality Show», der Replika des ikonischen Studio-Containers, ist eine physische Erfahrung. Spannend, schmerzlich und traurig zugleich. Während sich seit dem Jahr 2000 die einen für vermeintlichen Ruhm vor der ganzen Welt zum Affen machen, schauen die anderen fasziniert zu. Übrigens: 2024 kehrt «Big Brother» ins Fernsehen zurück.

The Last Reality Show - Boris Nikitin

Museum Tinguely

noch bis am 21. Januar 2024

tinguely.ch

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«Sternchen» miaut nicht mehr: Die Leckerlis für die Katze stehen noch am Boden.