Blut im Büro, Kleider bis zum Horizont und ein Lift für Giraffen – wir besuchen das Theater Basel. Setzen uns nicht etwa als Gast in den Zuschauerraum, sondern schleichen ehrfürchtig hinter der Bühne herum und bewundern diese magisch-verrückte Welt.

Da liegt eine Leiche im Keller. Blasse Zehen schauen unter blauem Tuch hervor. Wir befinden uns tief unter der Erdoberfläche, im Verbindungsgang zwischen Theater und Schauspielhaus. Unterhalb des Grundwasserspiegels gar – was die Flecken am Beton erklärt. Hin und wieder tropfts von der Decke. Die Leiche stört das nicht. Was ist oben, was unten? Was künstlich, was echt? Hier, im Theater Basel hinter, unter und oberhalb der Bühne verschwimmen die Grenzen. Und genau darum bin ich da.

Es ist exakt diese Zwischenwelt, die mich fasziniert. Die roten Samtvorhänge, die weiten Zuschauerreihen, der Glamour, die Bravo-Rufe und der Applaus; das Vor-der-Bühne ist mir bekannt. Ich bin hier, um das Dahinter zu entdecken. Gemeinsam mit Anja Adam, Frau mit Generalschlüssel, mache ich mich auf den Weg. Sie war Musiktheaterpädagogin und Dramaturgin, ist aktuell Co-Leiterin des Theater Public und Mitglied der Theaterleitung. «Seit acht Jahren bin ich am Theater Basel. Und finde bis heute immer wieder mir unbekannte Räume», erzählt sie lachend. Kein Wunder, denn was man von aussen nicht sieht: Das Theater Basel erstreckt sich über 12 Stockwerke, sechs davon befinden sich unter der Erde. 1000 Leute arbeiten hier, 500 davon sind fest angestellt. 70 verschiedene Berufe aus 30 Nationen sorgen dafür, dass jeden Abend ein anderes Stück gespielt werden kann.

Von einer vergessenen Billettkasse und Samt-Soffitten
Anja empfängt mich am Theaterplatz, der offiziell gar keinen Namen hat, weil er lediglich das Dach eines Parkhauses ist und darum aus statischen Gründen für kaum etwas zu gebrauchen. Ein dunkler Seiteneingang führt uns direkt zu einem historischen Eisentor. Der Sandstein der Elisabethenkirche berührt hier den Beton des Theaters. «Denkmalschutz in den 1970er Jahren? Fehlanzeige», lacht Anja. «Das Theater wurde Mauer an Mauer an die Elisabethenkirche drangebaut. Vom Theater aus führt eine Tür direkt in die Gruft der Familie Merian.» Überhaupt bietet der Bau der Architekten Schwarz & Gutmann einige Besonderheiten. Das riesige Betondach, Symbol eines Zirkuszelts, ist an der dünnsten Stelle gerade einmal 12 Zentimeter dick. «Die Architekten hatten nie zuvor ein Theater gebaut. Darum haben sie auch die Billettkasse vergessen. Sie wurde nachträglich eingebaut, war viel zu klein. Darum ist sie heute im Theater drin», weiss Anja. Nicht vergessen wurde hingegen der Bunker. Er erstreckt sich über weite Flächen im Untergeschoss, unterteilt durch unzählige Türen, Duschen und Toilettenanlagen inklusive – ein etwas unheimlicher Irrgarten, der heute als Kostümlager dient.

«Um einen neuen Vorhang aufzuhängen, braucht es jeweils 14 Mitarbeitende.»

Überraschend riesig präsentiert sich die Grosse Bühne von hinten. «Sie ist genau doppelt so hoch und noch einmal so tief wie aus dem Zuschauerraum ersichtlich, damit Bühnenbilder und Vorhänge hochgezogen und im Boden versenkt werden können», flüstert Anja. Gerade findet eine Lichtprobe statt, Stille ist geboten. Für jede Produktion müssen 412 Scheinwerfer neu justiert werden. An der Wand steht in grossen Lettern: Nichts anstellen. Metallteile der aktuellen Ballettproduktion verdecken Teile des Schriftzugs. Wir kommen an einem Unfallauto (eine Requisite) vorbei und steigen über ein paar Metallrohre zu einer schmalen Türe im Dunkeln: Das Vorhanglager. Aufgerollte Stoffe soweit das Auge reicht. Nummeriert und angeschrieben mit «Samt-Soffitten», «Portalschleier» oder «Operafolien». «Um einen neuen Vorhang aufzuhängen, braucht es jeweils 14 Mitarbeitende», weiss Anja. Und dann erblicke ich ihn: Den grössten Lift, den ich je gesehen habe. 8.8 Meter hoch. Mit ihm werden nachgebaute Häuser, Flugzeuge oder Eisenbahnwaggons transportiert. Sogar eine Giraffe hätte hier noch Luft nach oben.

Profis erschaffen Traumwelten
Mit dem monströsen Lift geht es runter in die Katakomben. Es wird laut. Sägekreischen, Schleifmaschinengeheul, Gehämmer. Wir sind in den Werkstätten. Konstrukteure, Bühnenbildner, Plastiker, Schreiner, Schlosser – sie alle arbeiten hier an den Bühnenbildern. Rund 25 neue gibt es pro Spielzeit. «Jeweils am Morgen wird das Bühnenbild vom letzten Abend abgebaut und das Probe-Bühnenbild montiert. Am Nachmittag nach den Proben wird alles wieder versorgt und die Kulisse für den Abend aufgestellt. Äusserst personalintensiv das Ganze – aber toll fürs Publikum!», meint Anja. Im Malsaal, der direkt unter den Glas-Pyramiden liegt, weist sie mich auf die gespannten Netze an der Decke hin. «Wegen den Kindern, die oben gerne auf den Pyramiden herumklettern, regnet es hier unten immer wieder Steinchen und Mörtel …» Die Wand hängt voller Gemälde: Rembrandt, Anker, van Gogh? Nein, Abschlussarbeiten der Lernenden. Und überall Plastiken: Ein goldenes Ohr, ein Drachenkopf, Kakerlaken, ein weisser Hai. Ein Nashorn hat eine überdimensionale Orange aufgespiesst. Staffeleien, Tische, Stühle und Böden sind übersäht mit Farbklecksen.

«Kaum etwas ist hier echt. Aber alles sieht echt aus.»

Wir machen uns wieder auf den Weg nach oben. Vorbei an Mitarbeitenden, die im Gang einen Tanzboden ausrollen. Anja zeigt mir Kunstschnee, auch «Hollywood-Schnee» genannt. In Tat und Wahrheit sind es Plastikfötzeli, die aussehen, als hätte man einen billigen Einweg-Plastiksack zerfleddert: «Wenn es im Theater schneit, beginnt das Publikum zu frieren, obwohl sich an der Temperatur nichts verändert», erzählt Anja. «Und genau das ist doch der Mehrwert vom Theater: Du befindest dich hier in einer Welt zwischen Fiktion und Realität. Kaum etwas ist hier echt. Aber alles sieht echt aus.» Das schmutzige Kleid, das Erbrochene auf dem Hemd – alles künstlich auf den Stoff appliziert. Die Leiche im Keller – aus Silikon. Das Spiegelei auf dem Teller – Papiermaché. «Universal Effektblut» lagert im Kühlschrank des Requisiten-Büros. Es riecht etwas gewöhnungsbedürftig nach Pfefferminz-Sirup und kann getrunken werden. Im Kostümfundus lagern tausende von Kleidern aus allen Epochen, in allen Farben, zu allen Themen. Hochzeitskleider soweit das Auge reicht. Was es noch nicht gibt, wird von Kostümbildnerinnen entworfen, im Schneideratelier genäht. Die engen Gänge sind voll mit Material, die Wände voller Ideen, nichts, was man hier nicht findet, das hier nicht entstehen kann.

Während unter der Erdoberfläche die Tänzerinnen und Tänzer trainieren und auf den Probebühnen neue Stücke einstudiert werden, diskutieren im 9. Stock die Maskenbildnerinnen über den perfekten Look für die kommende Produktion und auf Etage 12 üben Sängerinnen und Sänger ihre Partituren. Nur im Orchestergraben und in den Künstlergarderoben ist es noch ruhig. Der Bildschirm im Aufenthaltsraum zeigt eine dunkle Bühne. Erst am Abend kochen hier die Emotionen hoch, treffen geschminkte Gesichter und Kostüme auf schwitzige Hände, die Nervosität vor dem Auftritt auf die Erleichterung danach.

Es ist eine grosse, vielfältige, etwas verrückte Welt, deren Konzentrat täglich auf der Bühne zusammenkommt, ein Publikum begeistert. Ein magisches Unterhaltungs-Universum inmitten der Stadt, allein dazu da, die Menschen zum Staunen, Nachdenken, Lachen, Weinen und Träumen zu bringen. Am Ende unserer Reise durch endlose Treppenhäuser und Gänge, Tunnel, Werkstätten und Ateliers, vorbei an Tanzsaal und Probebühnen, zwischen Kleiderständern und Requisiten hindurch, durch den Bunker und wieder zurück sagt mir Anja: «Jetzt hast du etwa einen Viertel des Ganzen gesehen».

Das Theater Basel

Als grösstes Dreispartenhaus der Schweiz zeigt das Theater Basel auf drei Bühnen Oper, Schauspiel und Ballett – rund 600 Vorstellungen von über 25 Neuproduktionen pro Spielzeit. Seit der Spielzeit 22/23 wird zudem das Theater Public, unter anderem mit dem Foyer Public, einem öffentlichen Raum für alle mitten im Theater angeboten. Theaterintentant ist Benedikt von Peter.

Das charakteristische Gebäude mit dem riesigen Hängedach aus Beton wurde zwischen 1969 und 1973 nach den Plänen des Architekturbüros Schwarz & Gutmann errichtet. Es erstreckt sich vom Theaterplatz bis zum Pyramidenplatz, unter dessen Lichtkuppeln unterirdisch der Malsaal liegt. Das Dach überspannt 60 Meter und wiegt um die 1000 Tonnen. Der Tinguely Brunnen vor dem Theater zeigt an, wo die Bühne des alten Theatergebäudes stand, das 1975 gesprengt wurde.

theater-basel.ch