Es sind Zahlen des Grauens: Rund 150 Millionen Tonnen Plastik soll Schätzungen zufolge derzeit in den Weltmeeren treiben. Jährlich kommen um die 10 Millionen Tonnen dazu. Eine Katastrophe für das marine Ökosystem; über 800 Meerestierarten sind weltweit vom Plastikmüllproblem betroffen, Schadstoffe belasten die Ozeane, der Abfall türmt sich an den Traumstränden dieser Welt.
Zwei findige Herren haben sich 2019 zum Ziel gesetzt, sich der Katastrophe zu stellen. Thomas Schori und Marc Krebs, verschwägert, keine Umweltingenieure, keine Wissenschaftler, dafür mit einer grossen Portion Enthusiasmus und Kühnheit ausgestattet. Ihre Idee: Man muss Meeresplastik rezyklieren und in den Zyklus zurückbringen. Tönt simpel – ist bahnbrechend: Die Geschichte von Tide Ocean.
Ein globales Problem muss mit einem globalen Netzwerk angegangen werden.
Wie löst man ein globales Problem? «Man fragt erst einmal die Hochschule für Technik in Rapperswil um Rat», schmunzelt Marc. «Dort sitzen die Daniel Düsentriebs des Kunststoff-Recyclings! Sie sagten: Schickt uns den Müll, wir analysieren ihn und überlegen uns ein Verfahren zur Wiederverwertung des Materials.» So geschah’s. Das Ergebnis: Die Rezyklierung von durch Salzwasser und UV-Strahlen belastetem Meeres-Plastik ist möglich. Tide Ocean SA wurde gegründet. Ein halbes Jahr danach legte die Pandemie die Welt lahm. Tide Ocean machte weiter. Fuchste sich ein. Rannte an. Resignierte nie.
«Ein globales Problem muss mit einem globalen Netzwerk angegangen werden», so Marc. «Das ist aufwändig und anstrengend.» Neben monatelangem Tüfteln, Recherchieren, Vernetzen und Planen half hin und wieder auch das Glück. Tide Ocean fand ein neues Recycling-Center in Ranong, Thailand. «Die hatten tonnenweise Plastik, aber keine Ahnung, was sie damit tun sollten», erzählt Marc. «So wurde Thailand unser erstes Standbein.» Seither kamen die Philippinen, Indonesien und Mexiko dazu. Das Ziel: Auf jedem Kontinent soll der Meeresplastik gesammelt und rezykliert werden. Die Schweizer Technologie und das Know-How müssen überall auf der Welt platziert werden.
Dem Problem der mangelnden Infrastruktur in den Entwicklungsländern begegnet Tide Ocean mit einem Waste-Management-System, das auch sozialen Mehrwert bringt: So wird bereits der Fischer, der auf seinem Boot Plastik einsammelt, pro Kilo bezahlt, als würde er ein Kilogramm Fisch verkaufen. Auch im Sortierungs- und Trennungsprozess braucht es Arbeitskräfte, die entsprechend entlöhnt werden. In spezialisierten Recycling-Firmen wird der Meeres-Plastik am Ende anhand der Spezifikationen von #tide zum neuen Ausgangmaterial, einem sauberen Granulat, verarbeitet.
Jede Minute landet eine weitere Lastwagenladung voller Plastikmüll im Meer.
Die ersten Produkte aus #tide ocean material® wurden für die Uhrenindustrie entwickelt. Bald darauf regnete es für das Start-Up Preise. Aus der ganzen Welt kommen seither Anfragen; neulich sogar aus dem Silicon Valley. Namhafte Marken wie Hugo Boss, Tom Ford oder Maurice Lacroix arbeiten bereits mit Tide Ocean zusammen. Auch Coop und Migros wollen künftig nachhaltigen Plastik einsetzen. «Aktuell haben wir rund 100 offene Projekte», erzählt Marc nicht ohne Stolz. Mode, Elektronik-, Haushalt-, Automobil- oder Baubranche; der Verwendung von recyceltem Granulat oder Polyester ist kaum Grenzen gesetzt. «Eigentlich müsste kaum noch neuer Kunststoff hergestellt werden, denn an Rohstoff mangelt es wahrlich nicht», stellt Marc klar.
In zwei Jahren hat Tide Ocean rund 30 Millionen Pet-Flaschen aus dem Meer neues Leben eingehaucht. Das entspricht einem dreistelligen Tonnenbetrag. «Nichts» ist das für Marc. «Jede Minute landet eine weitere Lastwagenladung voller Plastikmüll im Meer! In diesem Jahr wollen wir doppelt so viel rezyklieren – wir stehen noch immer am Anfang.» Marc stapelt tief. Im Headquarter an der Maiengasse 30 sitzen unterdessen mehrere Mitarbeitende an ihren Computern. 14 Menschen und Dutzende Fischer arbeiten insgesamt für das Jungunternehmen, verteilt über die ganze Welt. Doch Marc Krebs und Thomas Schori wollen mehr. «Die Maiengasse soll zur Ocean Avenue werden», grinst Marc. Das Schild dazu hängt bereits neben der Eingangstür.