«Patisserie» und «Leckerly» stand in grossen Lettern auf dem Haus Nummer 15 am Marktplatz. Der Glarner Rudolf Schiesser hatte das Gebäude 1873, drei Jahre nach seinem Abschluss zum Konditormeister in St. Gallen, gekauft. Da er in der Ostschweiz keine Zukunft sah, emigrierte er mit 23 Jahren nach Basel. Hier verkaufte der Zuckerbäcker Glarner Pastetli und bald auch Läckerli – ein absoluter Luxus, denn Gewürze und Honig waren teuer.
Es war zu der Zeit, als die Birsig noch offen durch die Stadt floss und sämtliche Abfälle der Privathaushalte und des nahe gelegenen Schlachthofs direkt in der Kloake entsorgt wurden. Man kann sich den unbarmherzigen Odeur in etwa vorstellen, der damals in den Gassen rund um den Marktplatz hing. Jedenfalls: In Rudolf Schiessers Confiserie duftete es wie im Himmel. Nach Zimt, Zucker, Mandeln.
Die Umgestaltung des Marktplatzes um 1900 und die damit verbundene Überbauung des Birsig-Pfuhls machten bald auch entspanntes Promenieren durch die Innenstadt möglich. Kein Wunder also, liessen sich weitere Genusstempel hier nieder: 1914 eröffnete das Café Spillmann, wenig später das Café Singer. Die Familie Schiesser erweiterte 1915 mit Zunftstube und Tearoom. Im dunklen «Rathstübli» trafen sich fortan die Herren um zu politisieren und Zigarre zu rauchen. Im hellen Tearoom genossen die Damen ihren Kaffee und ihr Liqueurchen für die gute Laune.
Das alles ist lange her. Unterdessen ist «Schiesser» in Basel eine Institution. Ein Synonym für Genusskultur. Das Wohnzimmer der süssen Glückseligkeit. Hier bekommst du Kaffee, Pralinés und Kirschstängeli serviert von freundlichen Damen in weissen Schürzchen. Du sitzt an Tischen, auf Stühlen, unter Lampen, die vor hundert Jahren bereits hier standen und hingen – fein säuberlich restauriert natürlich. Aber alles original. Neben der Toilette trägt eine Tür die Aufschrift «Telephon». Innen drin ein schwarzes Bakelit-Gerät, das heute nicht mal mehr benutzt würde, wenn es die Technik noch zuliesse.
All das wirkt sympathisch altbacken. Soll es auch. Schliesslich ist die Tradition Teil des Schiesserschen Erfolgs. Ein Erfolg, der gemäss Stephan Schiesser, dem Urenkel von Rudolf, allerdings nur jemandem zu verdanken ist: Rosi, seiner Frau. Fragen wir hingegen sie, so antwortet sie mit leuchtenden Augen: «Ganz klar, unser Geheimnis ist Stephan. Ohne ihn wären wir heute nicht hier.» Die beiden sind verliebt. Ineinander und in ihr Werk. Und dieses Werk bedeutet Hingabe. Denn am Ende hat der Erfolg vor allem mit einem zu tun: Mit Arbeit. Sieben Tage die Woche sind die beiden vor Ort, erreichbar für alle Wünsche und Fragen. Marketing, Personal, Lieferungen, Buchhaltung; Stephan und Rosalba Schiesser machen alles selber.
Es gibt viel zu tun, um den Charme zu bewahren, der aus der Confiserie einen aus der Zeit gefallenen Ort macht. Einen Ort der gelebten Entschleunigung, der Nostalgie. Klar, auch die Confiserie Schiesser postet ihre News heute auf Facebook und Instagram. Trotzdem ist das Schiesser-Stübli nach wie vor eine entspannte Retro-Oase. Bei Schoggi-S und hausgemachtem Glacé kannst du die Menschen auf dem Marktplatz und das Treiben rund um das Rathaus beobachten und inne halten, wenn die Welt mal wieder zu schnell dreht. So haben es schon tausende Menschen viele Jahrzehnte vor dir getan. Spanische Grippe, Weltwirtschaftskrise, Krieg; das Unternehmen hat alles überlebt. «Dabei», erzählt Stephan Schiesser, «lief das Geschäft immer weiter. Mein Grossvater ist an der Spanischen Grippe gestorben. Während der Weltkriege war alles kontingentiert, es gab keinen Zucker, keine Gewürze. Meine Grossmutter musste Waren tauschen, um den Betrieb aufrecht zu erhalten.»
Aus Mangel an Mandeln verwendete man Aprikosenkerne zum Backen. «Vermutlich bereiteten die Mandeltörtchen damals dem einen oder anderen Kunden etwas Bauchweh, Aprikosenkerne haben nämlich ziemlich viel Blausäure...», schmunzelt Stephan Schiesser. Der Confiseur hat noch sämtliche handgeschriebenen Rezepte von einst und weiss, was in der Verzweiflung alles verarbeitet wurde. Aprikosenkerne kommen heute nicht mal mehr in Notsituationen ins Gebäck. Dennoch: «Die aktuellen wirtschaftlichen Umstände, bedingt durch den Virus, stellen uns vor extreme Herausforderungen», erzählt Rosalba Schiesser. Und das alles im 150. Jubiläumsjahr. Mist.
Aber Aufgeben gibt es nicht. Tradition verpflichtet und ist Ansporn. «Unser Ziel ist es, das Unternehmen dereinst den Kindern zu übergeben. Die sind zwar erst neun und zwölf Jahre alt, zeigen aber bereits reges Interesse», so Stephan Schiesser. Bei ihm war es damals ähnlich. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder wuchs er in den oberen Etagen der Confiserie auf. «Die Eltern wohnten im zweiten Stock, wir Kinder im vierten», erinnert er sich. Auch die Lernenden und die Grossmutter wohnten in dem Haus. Zum Essen versammelten sich alle um einen Tisch. Gekocht wurde von der Köchin. Die Mutter hatte keine Zeit – sie stand im Laden. 45 Mitarbeitende hatte die Confiserie in früheren Zeiten. Inklusive Haushalthilfe, Waschfrau, Kindermädchen. Seine Eltern lebten fürs Geschäft.
Stephan Schiesser stand bereits als Bub gerne in der Backstube und übernahm das Erbe seiner Vorfahren mit Freude. Nach seiner Lehre bei Sprüngli in Zürich und einem Parisaufenthalt bei Gaston Lenôtre, dem König der Feinbäcker, kehrte er in den Familien-
betrieb zurück. Die Passion für seinen Beruf hat er sich bis heute bewahrt. Ihm und seiner Frau Rosalba, Tochter einer süditalienischen Auswanderfamilie, ist es zu verdanken, dass die Confiserie Schiesser bis heute nachhaltig und mit grosser Sorgfalt geführt wird. Zwar arbeitete Rosalba bei der Konkurrenz, der Confiserie Frey, als sie Stephan Schiesser kennenlernte. Die zwei verliebten sich dennoch ineinander. Das erste Jahr trafen sie sich heimlich. «Das war aufregend und schön», strahlen die beiden. Und während sie von den Anfängen ihrer Liebe und den damit verbundenen Turbulenzen erzählen, müssen sie dermassen lachen, dass
die Kaffeetassen auf dem Holztisch im Tearoom leise klirren.
Wie war das nochmal mit dem Geheimnis des Erfolges? Standort? Qualität? Nachhaltigkeit? Arbeit? Auch. Aber ohne Liebe funktioniert im Leben nichts.
Diese Story ist ursprünglich im LoveYourCity Magazin erschienen – dem Erlebnismagazin für Basel mit Tipps, Geschichten und Highlights aus der Stadt.
Die Ausgabe gibt’s auch online zum Durchblättern. 👉 LoveYourCity Magazin Editionen 2020