Im Mai jährt sich die legendäre Expedition des Basler Sinfonieorchesters nach Salzburg bereits zum zweiten Mal. Es war anlässlich der ersten Lockerung der Covid19-Pandemie-Massnahmen, als das Sinfonieorchester Basel seine Sachen packte und kurzerhand nach Salzburg fuhr, um zwei Konzerte zum Besten zu geben. Wobei das Wort «kurzerhand» trügerisch ist: Die Geschichte hatte ein Vorspiel und begann schon im März 2020, als die ersten Verträge unterschrieben wurden. Man hatte damals zwar von Covid19 gehört, aber niemals erwartet, was wenige Wochen später losgehen würde: Quarantäne, Lockdown, vollständiges Aus für Veranstaltungen.
Es waren aber just diese Verträge, die ein Jahr später ein wunderbares, wenn auch anstrengendes Abenteuer bedeuten sollten. Die Inzidenzzahlen der Covid-Fälle sanken, erste Ankündigungen von Lockerungen standen im Raum, insbesondere in Österreich – und die Salzburger wünschten immer noch ausdrücklich, dass die Basler sie besuchen kommen. Das Sinfonieorchester liess sich nicht zweimal bitten. Doch das Unterfangen erforderte Planung und ein gewisses Mass an unternehmerischem Wagemut.
Mittendrin stand Ivor Bolton, heute 65 Jahre alt, Chefdirigent des Sinfonieorchesters Basel, zugleich Musikdirektor des Teatro Real in Madrid, Chefdirigent des Dresdner Festspielorchesters und Ehrendirigent des Mozarteums in eben jenem österreichischen Salzburg, das Bolton nun endlich mit seinen Basler Sinfonikern besuchen sollte. Bolton lacht, wenn er sich an diese Expedition erinnert, schiebt aber zugleich mit einem nachdenklichen Blick nach: «Der Lockdown. Meine Güte! Vier bis sechs Wochen an einem Ort, das hatte ich seit meinen Kindestagen nicht mehr erlebt.» Denn das Leben eines Chefdirigenten wie Bolton ist ein Leben auf Achse, stets mit den Partituren im Gepäck und einer gut getakteten Agenda gleich mehrere Orchester an mehreren Orten, nun ja: orchestrierend.
Bolton ist ein Bollwerk von einem Mann, kein Wunder bei diesem Berufsalltag – es braucht einen tiefen Antrieb, um sich einem solchen kosmopolitischen Lebensstil auszusetzen. Vor allem, wenn man wochenweise in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich und dann wieder in Spanien ist, wo Bolton mit seiner Familie in Barcelona den Wohnsitz hat. Die Arbeitszeiten reichen locker vom Vorabend bis spätnachts, das richtige Nachtessen gibts nicht selten erst gegen Mitternacht. Eine anstrengende Lebensweise, die Hingabe erfordert. Hingabe zur Musik, aber auch zum Orchester und vor allem zu den Menschen, die das Orchester ausmachen. Dazu gehören selbstredend die Musiker, aber auch die Direktion, die Technik und das Personal, das den gesamten Betrieb aufrechterhält.
Die Episode mit Salzburg also konnte 2021 zum Exempel für das Funktionieren dieses Orchesters werden: Tournee – ja oder nein? Falls ja: was ist alles zu beachten? Und: ist das politisch überhaupt opportun? Die Antwort war früh klar. Gegenüber den Zeitungen von CH Media sagte damals Hans-Georg Hofmann, künstlerischer Direktor des Sinfonieorchesters Basel: «Wir wollen und können damit auch zeigen: Es geht.» Denn Orchester reisen nun mal, Tourneen gehören zu ihrem Leben wie Beethoven, Schubert, Mendelssohn, auch wenn während des Lockdowns in einigen Kreisen bereits von einem «Ende der Herumreiserei» fantasiert wurde. Tatsache bleibt, dass sich die Orchester im Ausland präsentieren müssen, so will es auch ihr öffentlicher Leistungsauftrag. Zumal Tourneen gutes Geld einbringen.
Also machte sich das Sinfonieorchester bereit, testete sämtliche Schutzmassnahmen durch, bereitete sich bis zur letzten Minute minutiös auf diesen wichtigen Auftritt vor dem geimpften, getesteten oder genesenen, aber noch stets maskentragenden Publikum vor – und fuhr Ende Mai tatsächlich mit dem Zug nach Österreich. «Und dann, urknallplötzlich, ist alles, was da sticht und plagt, stört und verhindert, tötet und lähmt, vergessen. Auf der Bühne bei den Künstlern zuallererst», schrieb der Kulturjournalist und Musikkritiker Christian Berzins damals in den Zeitungen von CH Media.
Das Gastspiel, verschränkt mit der Lesung von Peter Simonischek aus einem eigens gefertigten Promotheus-Text des Basler Schriftstellers Alain Claude Sulzer, war ein enormer Erfolg. «Die Schweizer wirken vom ersten Takt weg eingespielt, als hätte es nie eine Corona-Pause gegeben», schrieb die «Kronen-Zeitung» kurz darauf und würdigte Boltons einfühlsame Orchesters ebenso wie Simonischeks «grandiose» Rezitation: «Das bejubelte Resultat: Musik und Text in kunstvoller Symbiose vereint.»
Heute, zwei Jahre später, kehrt langsam wieder eine Normalität in den Konzertbetrieb ein, wie man sie aus vorpandemischen Zeiten kannte. Und für Ivor Bolton geht es sachte auf den Abschied aus Basel zu, wo er seit der Saison 2016/17 Chefdirigent des Sinfonieorchesters ist. Ab 2025 übernimmt der heute 52-jährige deutsche Markus Poschner vorerst für fünf Jahre von Bolton. Aber bis dahin ist der gebürtige Brite Bolton noch voll im Einsatz: Am 19. April kündigte das Orchester die Saison 2023/24 unter dem Motto «Familienbande» an. Neben den Heimspielen mit prominenten Künstlerinnen und Künstlern wie den Jussen-Brüdern aus den Niederlanden oder den Labèque-Schwestern aus Frankreich wird es auch wieder Gastspiele geben. In Salzburg, freilich, in Wien, Luzern und an weiteren Orten.
Ein Orchester ist in sehr vielen Belangen wie eine Familie.
Wirklich ruhiger angehen lassen wird es Bolton aber kaum. Sein Gemüt, so sensibel und einfühlsam es in seiner musikalischen Leitung zur Geltung kommt, ist zu energiegeladen, viel zu begeistert von dem, was ihn antreibt. Auch wenn die Jahrzehnte des Reisens und der Bühnenauftritte ihren Tribut fordern. Derzeit ist Bolton nicht allzu gut zu Fuss, was seinem Enthusiasmus allerdings keinerlei Abbruch tut. Beim Fototermin zwischen dem Proberaum des Sinfonieorchesters und dem Basler Stadtcasino am Barfüsserplatz legt der Mann mit dem herzhaften Lachen ein gutes Tempo vor. Da längere Distanzen gerade nicht so gut gehen, erzählt er einfach im kleinen Orchester-Bus weiter, der eigens dafür zwischen den zwei Sälen pendelt.
Lieber als im Auto sitzt Bolton aber im Zug. Vor allem in Spanien, die Qualität dieses Transportmittels sei dort wahnsinnig gut, sinke aber schlagartig, wenn man zum Beispiel auf einen Zug in Italien wechseln müsse. Alles in allem sei «europe by train» eine «great experience», wobei er zugeben müsse, dass er den Transfer von Spanien nach Basel jeweils aber eher im Flugzeug absolviere, manchmal sei der Luftweg einfach effizienter. Und wenn er dann eben hier sei, verbringe er die meiste Zeit in der Tat im Stadtcasino – eigentlich mehr noch als im Proberaum am Picassoplatz oder in der Wohnung, die er für seine Basler Tage und Wochen in Bottmingen hat.
Und wenn er dann mal Freizeit hat, mag er die Museen. «Die Fondation Beyeler ist ein Traum», sagt er, vor allem wegen des Gartens. «Und natürlich das Kunstmuseum! Ein Ort der Ruhe und Kontemplation.» Dann dreht er sich um und fragt den Chauffeur: «Warte, wie hiess das Restaurant nochmals, in dem wir da kürzlich waren? Weisst du, das ehemalige Gefängnis?» Kurzes Überlegen, dann der Ausruf: «Das Au Violon! Ja, das war sensationell.» Sagts und strahlt spitzbübisch. Aber eben, viel Zeit zum Verweilen bleibt beim «tight schedule» eines Chefdirigenten alter Schule nicht. Umso wertvoller sind die einzelnen Momente der Ruhe.
«Wissen Sie», sagt er kurz vor dem Abschied, als wir zum letzten Mal an diesem Tag den Proberaum verlassen und jemand aus der Verwaltung an uns vorbeigeht: «Bei einem Orchester, da ist die Stimmung enorm wichtig, und zwar im gesamten Haus – wenn es sozusagen obenrum nicht klappt, dann merkt man es einfach. Ein Orchester ist in sehr vielen Belangen wie eine Familie.» Wie es denn in Basel sei, wollen wir wissen. Bolton dreht sich um, einen intensiven Blick in den Augen, während die Lippen erneut ein Lächeln formen: «Hervorragend! Basel hat ein wunderbar geführtes Sinfonieorchester.» Sagts, schüttelt noch einmal herzhaft die Hand und steigt wieder in den Minivan. Denn es ist bei aller Freude dieser Begegnung an der Zeit. Herr Bolton hat noch weitere Termine.
Text und Bilder: Andreas Schwald