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m Café Claire wird an diesem sommerlichen Dienstag Ende April gerade montiert. Auf das einjährige Jubiläum gönnen sich die Inhaber eine grosse Steckwand hinter der Bar. Nicht nur die stadtweit einzigartige Auswahl von zehn verschiedenen Negronis will angepriesen sein. Das Lokal am Basler Beckenweg zeugt durch und durch von Geschmack: Schöne Hölzer, eine stilvolle Bar, dezente Messing- elemente – hier verbringt man gerne Zeit. Das Claire ist ein modernes Wohnzimmer, eine Insel im quirligen Norden von Basel.
Noch läuft nicht ganz alles nach Plan, zumindest draussen. Zwar ist die direkte Nachbarschaft des Cafés fertiggebaut, doch der grösste Teil der Entwicklung lässt noch auf sich warten – der neue Park existiert erst in der Planung, stattdessen stehen dort die Reste des alten Parkhauses. Solche Kontraste definieren die Umgebung zurzeit: Während die bunten Genossenschaftshäuser am Beckenweg bezogen sind und Hunderte parkierte Velos von zahlreichen Bewohnenden zeugen, ist Richtung Norden vieles der künftigen Entwicklung erst auf Karten auszumachen.
Was aber gebaut ist, hat Vorzüge. «Die Umgebung hier hat etwas von Dorfcharakter: Ruhig, gemütlich, schön», sagt Geschäftsführer Yannick Studer, während er am langen Tisch im Claire sitzt und helles Licht durch die Fensterfront fällt. «Ich bin immer noch total happy über das Claire – es ist einfach ein richtig schöner Ort.» Dennoch ist fürs Claire Durchhaltefähigkeit angesagt: Wegen der langwierigen Bauprozesse ist die weitere Nachbarschaft heute noch nicht so ausgebaut, wie sie es sein sollte. Doch zum Glück ist das Claire mehr als ein Quartiercafé für Anwohnende. Es ist ein Verweil- und Durchgangsort in einer der grössten Entwicklungen von Basel-Stadt. Die entspannte Atmosphäre tagsüber und die Gemütlichkeit am Abend machen das Café mit Bar einzigartig: Wer in gepflegter Stimmung an einem der architektonisch angesagtesten Orte von Basel teilhaben will, ist hier richtig.
Die neuen Wege des Städtebaus
Das Areal um den Beckenweg heisst Lysbüchel Süd. Es ist der südlichste Teil der Basler Entwicklung Volta Nord, die sich gegenüber des Novartis Campus bis zur französischen Grenze erstreckt. Neben der Stiftung Habitat, die den Südteil bebaut hat, entwickelt der Kanton mit Immobilien Basel-Stadt, aber auch mit den SBB als Grundeigentümerinnen den Grossteil von Volta Nord weiter. «Es geht darum, dass der Wandel eines Areals in Gestaltung und Nutzen spürbar den Charakter des Quartiers und der Geschichte aufnimmt», sagt Beat Aeberhard, Kantonsbaumeister von Basel-Stadt.
Wo einst Lagerhallen standen und Logistik auf Hochtouren lief, gehen heute bereits Kinder zur Schule: in einem geschickt um- genutzten Gewerbebau des Schweizer Detailhandel-Konzerns Coop. Nebenan, in der riesigen Halle namens ELYS, werden Trendsportarten gepflegt. Und wenige Meter entfernt wohnen in einem ehemaligen Weinlager junge Familien in vielbesprochener und ausgezeichneter Baukultur. Das Wachstum im Norden soll das Quartier St. Johann erweitern. Von den bunten, verspielten Blockrandbebauungen in Lysbüchel Süd wird sich das Quartier nach innen in abgestuften, grossen und kleinen Massstäben entwickeln – eine Reminiszenz ans Industrielle, das die Umgebung lange definierte. «Das Quartier weiterstricken»: So könnte man das Prinzip nennen, das hier zur Anwendung kommt.
Man hat aus Jahrzehnten der Stadtentwicklung gelernt. Das zeigt sich auch in den Steuerungsmitteln: Der Kanton nutzt gezielt Wettbewerbe, um gestalterische Leitlinien zu setzen, aber auch, um eine hochstehende Auswahl an Projekten zu schaffen. Hinzu kommt ein städtebauliches Regelwerk. «Aus den Projekten soll mehr entstehen als die Summe der einzelnen Teile», sagt Aeber- hard. Im Regelwerk definiert die Stadt die wichtigsten Prinzipien des Städtebaus und der Landschaftsplanung. «Wir schreiben gewisse Qualitäten vor, die eine Entwicklung ausmachen müssen; dieser Leitfaden bildet die Grundlage zur Qualitätssicherung.» Die Identität des Quartiers zu erhalten, statt extreme Kontroste zu schaffen – auch darum geht es in einer Stadt, die grosses Wachstum verzeichnet, aber die eigene Erscheinung pflegen will.
Lysbüchel Süd: Zwischen Glücksfall und Exempel
«Auf Lysbüchel Süd sehen wir: Wenn alle alles tun können, dann tun sie das auch», sagt Aeberhard. «Wenn ein Areal so kleinteilig ist wie Lysbüchel Süd, dann funktioniert das toll». Jedoch gilt auch hier: Alles mit Mass. Würde man dies in einem weitaus grösseren Massstab anwenden, ergäben sich schnell Schwierigkeiten. Das reicht von der Wirtschaftlichkeit bis hin
zu städtebaulichen Ansprüchen. Das sieht auch die Stiftung Habitat so. Das Vorgehen vor Ort ist auf Lysbüchel Süd zugeschnitten. Das zeigt sich auch in der gemeinsamen Ausgestaltung mit den zwölf Bebauungspartnern, also bestehenden Baugenossenschaften, aber auch Neugründungen, die sich um eine der 15 Parzellen beworben hatten. Drei Parzellen bebaute Habitat selbst.
«Zum Ziel, eine Reminiszenz an die bestehende Stadt zu schaffen, gehört auch, mit kleinen Parzellierungen zu arbeiten», sagt Raphael Schicker, Leiter Projektentwicklung der Stiftung Habitat. Das Resultat ist eine Collage aus Bauten, die nicht durch die Menge der Bewohnenden Diversität schaffen muss, sondern dies durch die Vielzahl an individuellen Bauten und inhaltlichen Schwerpunkten tut.
Bemerkenswert sind drei Perspektiven. Erstens: Das Tempo. Im Februar 2018 lancierte Habitat als Grundei- gentümerin den ersten Aufruf, mit dem nach Bebauungspartnern gesucht wurde. Jetzt, gerade sechs Jahre später, ist die Bebauung praktisch abgeschlossen. Nur die Stiftung selbst finalisiert noch ein letztes Projekt, dessen Bezug auf das erste Quartal 2025 vorgesehen ist. Die zweite Perspektive ist die Zonierung. Im Gegensatz zu den meisten Entwicklungen in Basel, wo ein Zonenplan angepasst werden muss, um höher oder anders bauen zu können, beliess Habitat die Zone bei 5a. «Diese bot uns einerseits ausreichend Entwicklungsmöglichkeiten für unser Vorhaben, andererseits entspricht sie auch dem restli- chen, bestehenden Quartier», sagt Schicker. Damit setzte man sich auch nicht den politischen Unsicherheiten einer Teilnahme am Bebauungsplan Volta Nord aus – eine massive Zeitersparnis. Und dann ist da eben die dritten Perspektive: Das «Weiterstricken» des Quartiers. «Im Fall von Lysbüchel Süd schien uns dieses Vorgehen angebracht», sagt Schicker: «Im St. Johann dominieren traditionelle Blockrandbebauungen. Wir wollten eine Fortsetzung und Ergänzung der bisherigen Baukultur ermöglichen und nicht die grossen Kontraste zur Umgebung schaffen.»
Es ist das Gefühl des Gewachsenen, das den Charme ausmacht. Auch für Habitat ist die Erfahrung in dieser Form noch neu. «Wir werden sehen, wie sich das Quartier, die Genossenschaften und auch die Struktur der Bewohnenden entwickeln», sagt Schicker. «Wichtig ist uns, die Voraussetzungen für einen vielfältigen, durchmischten und lebendigen Stadtteil geschaffen zu haben, der sich entwickeln und verändern kann, aber langfristig dem Stiftungszweck entspricht.»
Text & Bilder: Andreas Schwald